A. Mattioli: Verlorene Welten

Cover
Titel
Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700–1910


Autor(en)
Mattioli, Aram
Erschienen
Stuttgart 2017: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 26,00
URL
von
Yves Schmitz, Universität Marburg

Trotz der allgemeinen Faszination für die USA im deutschsprachigen Raum, existiert hier nur wenig wissenschaftliche Literatur zur Geschichte der indigenen Bevölkerung in Nordamerika. Eine Lücke, in die das sehr gut lesbare Buch von Aram Mattioli stösst. Dieses befasst sich mit der Rolle der indigenen Nationen in der US-amerikanischen Expansion vor allem im 18. und 19. Jahrhundert, insbesondere hinsichtlich der Gewalt und Unterdrückung, welche diese Beziehungen belasteten. Es handelt sich also nicht, wie der Titel suggeriert, um eine Monographie zur Geschichte der indigenen Bevölkerung Nordamerikas. So werden Themen wie die indigenen Wirtschaftssysteme, Religionen, Kulturen und soziale Ordnungen nur relativ kurz behandelt und dann vor allem hinsichtlich der «Plains»-Nationen wie den Comanche (etwa S. 221–227). Zentrale kulturelle Elemente, wie ein «potlatch» der indigenen Bewohner der Pazifikküste oder der «sun dance» für die Lakota, werden nur erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt.

Um die amerikanisch-indigenen Beziehungen darzustellen, gliedert sich das Werk chronologisch nach einzelnen Fallbeispielen, welche exemplarisch bestimmte Themen, Zeitabschnitte und/oder Konflikte beleuchten. Nach einigen einleitenden Bemerkungen, unter anderem zur amerikanischen Geschichtsschreibung, wird mit einem kurzen Überblick über die Kolonialzeit und die Entstehung der USA begonnen, wobei sich die Analyse vor allem auf die indigenen Akteure im Ohio-Tal fokussiert. Hierbei wird die neue Dynamik deutlich gemacht, welche die weiss-indigenen Beziehungen nach dem Unabhängigkeitskrieg auszeichnete. Das nächste Kapitel zeigt dann das US-amerikanische Vorgehen hinsichtlich des Ohio-Tals und beschreibt die sogenannte «Lewis and Clark Expedition». Die folgenden Abschnitte beziehen sich auf das 19. Jahrhundert, das vierte Kapitel umfasst die amerikanische Umsiedlungspolitik («removal») der sogenannten «Five Civilized Tribes». Kapitel fünf behandelt die sehr gewalttätige amerikanische Politik gegenüber den Indigenen in Kalifornien, im sechsten Kapitel wird schliesslich die amerikanische Vereinnahmung der «Great Plains» nach dem Bürgerkrieg behandelt. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit dem Ende des 19. Jahrhunderts, insbesondere mit dem Reservatssystem, dem indigenen Widerstand vor allem im Rahmen der «ghost dance»-Bewegung und dem Beginn der Mythologisierung des «Wilden Westens». Ein Epilog zur Indigenenpolitik Anfang des 20. Jahrhunderts mit einem Fokus auf die repressive Bildungspolitik und dem versuchten Ethnozid schliesst die Untersuchung ab. Die Listen für weiterführende Literatur im Anhang helfen zu einzelnen Themen mehr Informationen zu finden, allerdings findet sich kein echtes Literaturverzeichnis, was die Arbeit mit den Fussnoten erschwert.

Der Aufbau des Buches und die Auswahl der Fallbeispiele sind für eine Einführung zum Thema gut nachvollziehbar. In den einzelnen Abschnitt fungiert vor allem das Thema der Massengewalt als zentraler Fokus der Analyse, wobei neben dem amerikanischen Militär auch den Siedlern als Gewaltakteuren viel Platz eingeräumt wird. Gewalt und Unterdrückung werden zurecht als die bestimmenden Elemente der amerikanisch-indigenen Beziehungen bis Anfang des 20. Jahrhunderts ausgemacht, wobei die Ausprägung regional und zeitlich unterschiedlich war. In diesem Rahmen lehnt der Autor den Genozid-Begriff für eine Analyse der kompletten historischen Entwicklung überzeugend ab und weist stattdessen auf einzelne regionale Genozide hin, etwa in Kalifornien in der Zeit des Goldrausches (Kapitel 5). Mattioli berücksichtigt aber auch die Rolle weiterer Faktoren wie Krankheiten und damit zusammenhängend die Demographie (etwa S. 67–70), welche den indigenen Widerstand entscheidend beeinflusste. Andere Faktoren, wie die indigene Grenzpolitik, werden nicht weiter ausgeführt.1 Zudem wird detailliert, mit zahlreichen eindrucksvollen Beispielen und Zitaten, der Blick der amerikanischen Gesellschaft auf die indigene Bevölkerung beschrieben. Für die (weissen) Amerikaner war die indigene Kultur nicht nur nicht schützenswert, sondern sie sollte aktiv zerstört werden. Hinsichtlich des amerikanischen Staates, der in Auseinandersetzungen immer auf Seiten der Siedler stand, wird in den Kapiteln den Präsidenten viel Platz eingeräumt, etwa im vierten Kapitel Andrew Jackson oder im Epilog Theodore Roosevelt. Das Buch basiert zu grossen Teilen auf den Erkenntnissen der sogenannten New Western History sowie der Ethnohistory, allerdings finden sich auch teilweise veraltete Sichtweisen. Im sechsten Kapitel wird etwa mehrfach der Eindruck erweckt, die indigenen «Plains»-Nationen hätten sich nur
mit Pfeil und Bogen und einigen wenigen veralteten Feuerwaffen amerikanischen Soldaten
widersetzt, welche mit modernen Hinterladern weit überlegen gewesen wären (etwa S. 265, 285). Dies trifft nicht zu, vielmehr waren auch moderne Feuerwaffen unter den Indigenen in der Prärie weit verbreitet, die Waffentechnologie spielte nur eine kleine Rolle im Ausgang der dortigen Konflikte.2

Ein grosses Plus des Buches ist der mitreissende Schreibstil, welcher im besten Sinne an den Bestseller von Dee Brown3 erinnert. Mattioli fesselt die/den LeserIn, man merkt dem Text das Engagement und die Faszination des Autors für das Thema an. Das Buch bezweckt, einer breiten Leserschaft die Erkenntnisse neuerer amerikanischer Forschung zu der indigenen Rolle in der US-amerikanischen Expansion zugänglich zu machen. Dieses Ziel hat es insgesamt durchaus erfüllt, das Werk ist für Studierende und Interessierte als Einstieg und erster Überblick wärmstens zu empfehlen.

Anmekrung:
1 Siehe hierzu etwa: David G. McCrady, Living with Strangers. The Nineteenth-Century Sioux and the Canadian-American Borderlands, Lincoln NE 2006.
2 David J. Silverman, Thundersticks. Firearms and the Violent Transformation of Native America, Cambridge MA 2016, S. 4, S. 19, S. 248.
3 Dee Brown, Bury My Heart at Wounded Knee. An Indian History of the American West, New York 1970.

Zitierweise:
Schmitz, Yves: Rezension zu: Mattioli, Aram: Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700–1910, Stuttgart 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 180-181. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

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